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Treffen sich Form und Inhalt: Meet Me in St. Louis

„Meet Me in St. Louis“ ist in mehrerlei Hinsicht ein wichtiger Hollywood-Film, eher schon ein Hollywood-Ereignis. Allein deshalb, weil sich Vincente Minnelli und Judy Garland am Set treffen. Auf diese Begegnung folgen eine Liebe, eine Ehe, die Tochter und eine Scheidung. Es war Minnellis dritter Film als Regisseur und sein dritter für MGM – noch eine fruchtbringende Liaison. Der „Goldenen Ära“ bei Metro-Goldwyn-Mayer ist Minnellis Stil – üppig, agil, zart – bis ins Mark eingeschrieben. Eingeschrieben ins Kollektivgedächtnis hat sich insbesondere ein Song: „Have Yourself A Merry Little Christmas“ wurde für diesen Film komponiert und geschrieben.

Wichtig ist der Film auch als Zeitdokument. Die Premiere fand am Vorabend des D-Day statt, der Alliierten-Invasion in der Normandie. Der Film montiert Kurzgeschichten der Autorin Sally Benson zu einem Plot von Familie, Krise, Liebe und Heimat. Das ganze Spektrum des Seins, könnte man meinen.

Die Handlung spielt im Jahr 1904, dem Jahr der Weltausstellung. Der Haussegen der Smiths gerät in Schieflage, als Vater Alonzo die Familie von St. Louis, Misouri nach New York umsiedeln will, wo ihm ein besserer Job winkt. Der Nucleus der Geschichte ist also das Verlassen der Heimatstadt. Dementsprechend viel steht für alle auf dem Spiel. Im Falle des Vaters ist es die Entscheidungshoheit, sein Patriarchat. Im Falle von Esther Smith, Judy Garlands Rolle, ist es die Liebe zum Nachbarsburschen. Die kleine Tootie Smith – für ihre Darstellung wurde Margaret O’Brien mit dem Kinder-Oscar bedacht, dem einzigen Academy-Erfolg für „Meet Me in St. Louis“ – ist zu jung, der Großvater zu alt. Am Ende bleibt die Familie in St. Louis.

Das Gelingen des Films begründet sich dabei mehr im „Wie“ als im „Was“. Der Plot bietet keinerlei Überraschung, das Happy End stand nicht zur Debatte. Einen trüben oder ungewissen Ausgang hätte man einem Publikum zu Kriegszeiten nicht zugemutet, schon deshalb nicht, weil man sich keinen Kassen-Flop leisten wollte.

Minnelli, der Unterhaltungsregisseur mit den traurigen Augen, dreht 1944 mit „Meet Me in St. Louis“ seinen ersten Farbfilm. Jahrelang hatte sich die Kinoindustrie mit einer aus heutiger Sicht abwegigen Bekümmernis geplagt. Das Gespenest Farbe trieb den Filmschaffenden Sorgenfalten in die Stirn. Von Mary Pickford, die Hollywood in den 20er-Jahren im Sturm genommen hatte, stammt der wunderbare Ausdruck: „Filme mit Ton zu unterlegen ist, als trüge man der Venus von Milo Lippenstift auf.“ Analog könnte man den Bammel vor dem Vollfarbfilm formulieren: „Filme mit Farbe zu versehen ist, als zöge man der Venus von Milo Reizwäsche an“.

Schwarzer Gurt in Technicoclor

Natürlich war Minnelli kein Pionier des Farbfilms mehr. Mit „Trail of the Lonesome Pine“ (1936), „The Adventures of Robin Hood“ (1938), „Gone with the Wind“ und „The Wizard of Oz“ (beide 1939) hatte sich das neue Drei-Farb-Verfahren von Technicolor bereits etabliert. Und doch: Minnellis Umgang mit Farbe und Licht ist unerschrocken und pointiert. Seine Palette wechselt mit den Jahreszeiten, changiert zwischen träumerisch und düster. Wenn wer tanzt, tanzt auch die Kamera.

Beeindruckend, weil beklemmend: Die Halloween-Sequenz aus der Perspektive der kleinen Tootie. Beeindruckend, weil intim: Die Sequenz, in der Esther Smith zusammen mit John Truett (Tom Drake), ihrem Augenschmaus von nebenan, nach einer Hausparty bei den Smiths die Lampen löscht. Die zunehmende Dunkelheit in diesen zerbrechlichen Einstellungen gibt den beiden Figuren mehr und mehr Raum für eine erste private Nähe, die fast romantisch wäre, würde ihnen nicht das Herz bis zum Hals schlagen. Diese Bilder, die Close-Ups von Esther Smith sind schon Minnellis Liebesgeständnis an Garland – ein Freudscher Versprecher auf Zelluloid.

„Niemand wird behaupten wollen, dass ein Musical sinnvoll sei“, schreibt Siegfried Kracauer an einer Stelle in seiner „Theorie des Films“. „Meet Me in St. Louis“ kann er mit seiner Aussage nicht im Blick haben. Aber die Zeile hat ihre Berechtigung. Zu häufig verkommt im Musical ein Film zu theatralischem Gewäsch. Staubfänger, überzuckert, nicht kompostierbar. Zu häufig überblenden diese Streifen um den Preis der Substanz. Form ohne Inhalt.

In der heutigen Zeit, in der, wie es scheint, jedes schlüpfende Küken zu einem Musical verarbeitet wird, kann man mit Recht von einer genreseitigen Anmaßung sprechen. Es gibt nun mal Stoffe, die sich fürs Musical eigenen und solche, die sich dem Format verweigern. Das muss die Branche immer wieder lernen. Zum Beispiel von Minnelli.

Felix‘ Picks

Filme mit Städtenamen im Titel? Felix hat „Rio Bravo“ von Howard Hawks ausgesucht. Hier könnt Ihr Sandras Text zu dem Film lesen.

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Felix

Als Student und Journalist lebt Felix in Frankfurt am Main – eine Stadt, die sein Herz sehr hoch schlagen lässt. Als Cineast hält er es mit Tucholskys Bonmot: „Ein Film – was kann das schon sein, wenn es die Zensur überlebt hat?“

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